Tabuthema Sucht

Wege aus der Abhängigkeit

von Katrin Reichelt

Nur noch ein Glas. Eine letzte Zigarette. Ein Joint, weil es alle tun. Eine Tablette zum Einschlafen. Eine zum Wachbleiben. Eine gegen Schmerzen.

SUCHT: Solange es niemand bemerkt, ist es keine. Wir tendieren dazu, Sucht als Entspannung zu bezeichnen. Wenn es jemand bemerkt, können wir es noch immer abstreiten. Wenn es sich nicht mehr abstreiten lässt, kann ich mich noch immer selbst belügen. Und wenn das nicht mehr funktioniert, bleibt ja noch der Rückzug … in noch mehr Sucht. Bis man nichts mehr spürt.

 

Abhängigkeit hat unzählige Gesichter: von Zucker, Harmonie, Sex, Computerspielen, Wichtigkeit, Beziehungen, Kontrolle, der Erste zu sein, von Drama oder Gewalttätigkeit. Sucht is so komplex, dass nur der- oder diejenige selbst entscheiden kann: Ich will etwas anderes. Hilfe von außen ist immer sinnlos, wenn die eigene innere Entscheidung dagegen arbeitet. Und dennoch geht es nicht ohne Hilfe von außen – ein Paradox, das ungeheuer schwer aufzulösen ist.

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Was ist geschehen?

Abhängigkeit und Sucht entsteht dadurch, dass wir bestimmte Aspekte unseres Lebens nicht anschauen wollen, weil sie uns zu schmerzlich oder unerträglich erscheinen. Dazu wiederum bedarf es einer bestimmten Chemie im Gehirn und auch einer bestimmten Chemie der Seele. Erst jetzt entdecken Forscher der Epigenetik, wie sehr Traumata, die nahezu jeder Mensch von früher Kindheit an erleben kann, die Biochemie unseres Körpers verändern können – bis hin zur Sucht, einem selbstzerstörerischem Verhalten, gezündet in einer Zeit, an die wir uns oft nicht einmal erinnern. Weil wir diese Aspekte und ihre Auswirkungen nicht sehen können oder wollen, kann nur jemand von außen uns darauf aufmerksam machen. Nur durch den Spiegel eines anderen Menschen können wir das Problem herausarbeiten und eine Strategie entwickeln – und es gibt hervorragende Strategien, von Al Anon-Gruppen bis zur Gestalttherpie. Sie funktionieren jedoch nur dann, wenn sich beide – Therapeut und Süchtiger (wonach auch immer) – einem gemeinsameen Ziel verpflichten: clean zu werden, nicht zeitweise, sondern für immer.

 

ES REICHT NICHT, AUFHÖREN ZU KÖNNEN.

Viel schwieriger ist es, nicht wieder anzufangen. Wenn der Stress kommt, die Überlastung, die Angst, die Einsamkeit, das Gefühl von Zurückweisung, die Furcht vor Kontrollverlust. In unserem Gehirn hat sich eine Substanz (oder ein Verhalten) mit einem Ereignis verschaltet, als würden diese beiden unlösbar zusammengehören. "Meine Kumpels lassen mich nur dabei sein, wenn ich mittrinke."  Das Gehirn macht daraus: "Immer, wenn ich mich einsam fühle, hilft trinken." Oder: "Nur, wenn ich ein Riesendrama mache, bemerkt mich jemand." Oder: "Wenn ich dauernd esse, bin ich nicht so wütend."

Um diese Verschaltung zu deaktivieren, müssen wir sie jedes Mal, wenn sie anspringt, überhaupt erst wahrnehmen, dann den Zusammenhang in unserer Gefühlswelt bewusst entkoppeln, ihn als nutzlos identifizieren und wiederum bewusst ausschalten.

Homöopathie hilft bei der Heilung

Die homöopathische Behandlung einer Sucht gehört in die Hände erfahrener Therapeuten, weil wir unsere Sucht nicht sehen können … so, wie wir unsere Augen nicht sehen können. Wir sind komplett verstrickt in das, was wir tun. Wir halten es mit aufrichtigem Herzen für die Realität und hängen in Wirklichkeit nur an der Maschine unserer Ängste. Und selbst, wenn wir sie erkennen könnten: Es bleibt immer noch die Regulationsstörung auf der physischen Ebene. Das passende Mittel muss genau zu den Symptomen passen, um das Ungleichgewicht auszutarieren.

 

Die Carstens Stiftung hat ein Projekt am Vivantes Klinikum in Berlin Spandau gefördert. Dort wurden alkoholkranke Menschen mit Homöopathie behandelt: zum einen gegen die schweren Entzugssysmptome, zum anderen gegen die begleitenden Erkrankungen der Alkoholsucht. Die Ergebnisse übertrafen die herkömmlichen Methoden, auf weitere Medikamente konnte in der besonders schwierigen Entzugsphase meist verzichtet werden.

Ein Ausschnitt: "Zum Einsatz kamen gängige Mittel. Insbesondere fällt die häufige Anwendung von Arsenicum album und Lycopodium clavatum auf. Das Mittelbild von Arsenicum beinhaltet die typischen Symptome des akuten Alkoholentzugssyndroms mit ängstlicher Unruhe, Tremor und Schwäche, so dass es in dieser Situation oftmals erfolgreich eingesetzt werden konnte. Der Lycopodium-Patient offenbart eine narzisstisch-depressive Struktur [1], die in vielen Fällen bei chronisch-alkoholkranken Menschen vorhanden ist, und somit die häufige Anwendung verständlich macht [4]".

 

DAS WESEN VERÄNDERT SICH

Letzteres bedeutet, dass der suchtkranke Mensch nicht mehr in der Lage ist, über seine eigenen Bedürfnisse hinauszusehen, hoffnungslos ist und voller Selbstmitleid.

Die dritte wichtige Arznei neben Arsenicum album und Lycopodium beim Entzug von Alkohol und Designer-Drogen ist Nux vomica: Sie wird im Allgemeinen dem hochgetunten, schnell wütenden Erfolgsmenschen zugeschrieben, der seinen Stress mit allen Arten von Substanzen beruhigt und dabei immer hektischer und empfindlicher wird.

Auch wenn die Ausprägungen einer Abhängigkeit und auch die Substanzen oder Umstände, von denen wir abhängig werden können, völlig unterschiedlich sind, bleibt das Prinzip der homöopathischen Behandlung gleich. Es geht darum,

  • die Ursache der Regulationsstörung durch eine klassisch homöopathische Anamnese aufzuspüren
  • einen heilenden Impuls zu setzen, der die verhedderten Verhaltensmuster neu ordnet
  • Bewusstsein für unsere eigenen Reaktionsmuster zu schaffen
  • den Blick auf andere Möglichkeiten zu lenken
  • und die Kraft zu verleihen, diese unter den auslösenden Stressoren dann tatsächlich zu wählen, statt in die alten Fallen zu tappen.

 

Aus Samuel Hahnemanns Sicht ist keine Sucht "schlimmer" oder unheilbarer als die andere, weil er immer von einer allem zugrunde liegenden Regulationsstörung der Lebenskraft ausging, die sich durch eine Krankheit zeigt. Sucht ist nur eine der unzähligen Möglichkeiten und in seiner Medizin, anders als in unserem gesellschaftlichen Kontext, mit keinerlei Tabu belegt.

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